Stadt- und Kulturgeschichte von Großwardein

Die Akademie Mitteleuropa und die Christliche Universität Partium veranstalteten vom 3. bis 5. Dezember 2021 in der Bildungs- und Begegnungsstätte „Der Heiligenhof“, Bad Kissingen, ein Seminar im Rahmen der Reihe „Mitteleuropäische Städteporträts“ zur „Stadt- und Kulturgeschichte von Großwardein/Oradea/Nagyvárad“.

In dieser Reihe wurden im vergangenen Jahrzehnt bereits viele siebenbürgischen Städte und zuletzt Temeswar als zukünftige Europäische Kulturhauptstadt vorgestellt. Es nahmen an dieser für Interessierte offen ausgeschriebenen Veranstaltung knapp 40 Personen aus Deutschland, Ungarn und Rumänien teil, unter ihnen auch Germanistikstudenten aus Großwardein. Aufgrund pandemiebedingter Einschränkungen kamen etwas weniger Teilnehmer als erwartet. Mehrere Vorträge und Präsentationen mussten daher online gehalten werden. Insgesamt gab es elf, meist reich bebilderte Vorträge zur Stadtgeschichte und Kultur, Architektur, Musik, den verschiedenen Ethnien und Religionsgemeinschaften etc. Die Referierenden kamen aus Rumänien, Ungarn und Deutschland.

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Großwardein/Oradea (früher Oradea Mare)/Nagyvárad – die Bezeichnungen in den Sprachen Deutsch, Rumänisch und Ungarisch entsprechen einander und gehen etymologisch auf das ungarische „nagy“ für „groß“ und „var“ für „Burg“ zurück – war einst die zweitgrößte und zentral gelegene Stadt des Königreiches Ungarn. Großwardein ist mit rund 200.000 Einwohnern eine bedeutende Großstadt im Nordwesten Rumäniens, nahe der ungarischen Grenze. Die „deutsche“ Geschichte Großwardeins ist nie die dominierende gewesen. Aber es gibt wichtige Bezüge zum deutschen Sprach- und Kulturraum und eine rund 200-jährige Zugehörigkeit zum Habsburger Reich.

Dr. Konrad Gündisch (München) bot in seiner „Einführung in die Geschichte Großwardeins“ einen Überblick über die Entwicklung dieser Stadt im Verlauf von über tausend Jahren. Diese begann mit der Verlegung des Biharer Bischofssitzes ins damalige Wardein im Jahr 1080 neben dem sich ein Gewerbe- und Handelszentrum etablierte. Wichtig war die 1191 erfolgte Heiligsprechung des in der Wardeiner Kathedrale beerdigten ungarischen Königs Ladislaus I., zu dem nun zahlreiche Gläubige Wallfahrten unternahmen. Im 14. bis 15. Jahrhundert erlebte Wardein eine Blütezeit, gefördert vom ungarischen, böhmischen und römisch-deutschen König Sigismund von Luxemburg, der ebenfalls in der Kathedrale begraben wurde. Nach Zerstörungen durch osmanische Truppen und durch Aufständische erholte sich die Stadt kurzfristig, die nach dem Zerfall des mittelalterlichen Königreichs Ungarn infolge der Schlacht von Mohács (1526) wechselweise von den Habsburgern, von siebenbürgischen Fürsten und schließlich von den Osmanen beherrscht wurde. 1692 eroberten die Habsburger Wardein, das nunmehr über zwei Jahrhunderte zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehörte. Die Stadt entwickelte sich auf wirtschaftlicher und kultureller Ebene, neben dem römisch-katholischen entstanden ein reformierter und ein griechisch-katholischer Bischofssitz. Eine wichtige Rolle spielten dabei die Juden, die hier mehrere Synagogen errichten konnten. In der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden in der „Gründerzeit“ prachtvolle Bauten im Jugendstil errichtet, die bis heute das Stadtbild prägen. Die Deportation von rund 25.000 Juden (1944), von denen nur etwa 2.000 den Holocaust überlebten, trug zum Niedergang der Stadt bei. Unter kommunistischer Herrschaft wurde die industrielle Entwicklung forciert, aber auch die Großwardeiner Universität gegründet. Nach der Wende von 1989/1990 fanden schwierige wirtschaftliche Transformationsprozesse statt. Heute ist Großwardein ein wichtiges wirtschaftliches, kulturelles und politisches Zentrum Rumäniens.

Einen anschaulichen Einstieg in die Stadtgeschichte bot der Bildvortrag von Prof. Dr. Karl-Heinz Rothenberger und Monika Georgieff (Landshut) „Eine Annäherung an die Stadt in Kunstfotografien“. „Die Bilder in analoger Schwarz-Weiß-Fotografie aufgenommen, leben nicht von der Gefälligkeit bunter Aufnahmen, sie erfordern Aufmerksamkeit, sie müssen gelesen werden“ so die Urheber. Die Arbeiten entstanden im Rahmen intensiver Zusammenarbeit mit der medizinischen Fakultät der Universität Großwardein in einem Zeitraum von 19 Jahren. Der Bilderreigen begann mit der räumlichen Annäherung an die Stadt. Die großartigen Bauten der Stadt wurden auch in ihren Veränderungen und dem Willen zum Erhalt des historischen Erbes vorgestellt. Die kulturelle Vielfalt spiegelte sich auch an den Sakralbauten der verschiedenen Glaubensrichtungen, die wiederum auf die verschiedenen historischen Ethnien der Stadt verwiesen.

In seinem zweiten Vortrag „Deutsche Kaiser- und ungarische Königsgräber in Großwardein“ konzentrierte sich Dr. Konrad Gündisch auf die mittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte der Stadt. Die Kathedrale wurde zur Grablege mehrerer Könige, Königinnen und Königskinder bestimmt, unter ihnen von: Ladislaus I. der Heilige (1077-1095), Ladislaus IV. der Kumane (1272 bis 1290), Beatrice von Luxemburg (gest. 1319), zweite Gattin Karls I. Robert von Anjou, Maria von Anjou (gest. 1395), erste Gattin Sigimunds von Luxemburg, Kaiser Sigismund von Luxemburg (1387 bis 1437). Großwardein wurde nach der Heiligsprechung Ladislaus‘ I. (1191) zu einem wichtigen Wallfahrtsort. Vor der Bischofskirche wurden Statuen des ungarischen Staatsgründers Stephan I. der Heilige (995 bis 1038), seines Sohnes, des Heiligen Emmerich (* um 1000/1007 † 2. September 1031) von Ladislaus I. dem Heiligen aufgestellt. 1390 wurde ein Reiterstandbild Ladislaus‘ I. aufgestellt, das die berühmten Künstler Martin und Klausenburg geschaffen haben. Während eines Aufstands der Unitarier (1565) wurden die Gebeine des Hl. Ladislaus verstreut und auch andere Gräber verwüstet. 1638 wurde die Kathedrale abgerissen, und die Burg Wardein zu einer Festung umgebaut. Dabei wurde ein Grab mit überreichen Beigaben samt Krone und Szepter gefunden. Es wurde vermutet, dass es sich um die Grabbeigaben Sigismunds von Luxemburg handelte. Daher stritten die Habsburger und die siebenbürgischen Fürsten um diese Schätze. 1660 wurde Großwardein von den Osmanen erobert, die Königsstatuen, die der türkische Reiseschriftsteller Evlia Celebi als „Talismanne der Burg“ bezeichnet hatte, wurden eingeschmolzen. 1755 berichtete der Festungskommandant Maria Theresia über den Fund eines königlichen Grabes mit Grabbeigaben. Einige dieser Fundstücke werden bis heute in Wien aufbewahrt. Ende des 19. Jahrhunderts wurden archäologische Grabungen auf der Suche nach dem Grab Ladislaus‘ des Heiligen vorgenommen. Während der Renovierung der Festung (2000 bis 2020) fanden weitere Grabungen statt, doch wurden die Königsgräber oder Reste der Statuen nicht aufgefunden. Nach Jahrzehnten der Verdrängung dieses historischen und kulturellen Erbes besinnt sich die Stadt heute wieder, dass sie die sterblichen Überreste bedeutender ungarischer Könige und eines deutschen Kaisers beherbergt.

Attila Lakatos-Balla (Großwardein) referierte über den „Einfluss der kirchlichen Bautätigkeit auf das Stadtbild Großwardeins im 18. Jahrhundert“. Das römisch-katholische Bistum von Großwardein und sein Kapitel spielten als wichtige kirchliche Institutionen der Stadt und der Region und als feudale Grundbesitzer eine zentrale Rolle bei der Herausbildung und Entwicklung der barocken Stadtlandschaft und -struktur von Großwardein, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung der Gemeinde weder damals noch später katholisch war. Der wichtigste Grund dafür war, dass es den Habsburgern im 17. Jahrhundert gelang, fast alle wichtigen Errungenschaften der organischen Stadtentwicklung des vorangegangenen knappen Jahrhunderts und damit auch der städtischen Autonomiebewegungen zu beseitigen, und die um die Mitte des 16. Jahrhunderts erodierte Macht und die Eigentumsrechte der katholischen Kirche praktisch unverändert wiederherzustellen. Da die Stadt nach der Türkenbelagerung von 1660 beträchtlich schrumpfte und während der Befreiungsbelagerung von 1692 mehr als 90 Prozent ihrer Gebäude verlor, wirkte sich das Handeln der kirchlichen Institutionen, die über Grundbesitz verfügten, in erheblichem Maße auf die Veränderung der Stadtstruktur selbst aus und schuf das Straßennetz, die räumliche Struktur und das Stadtbild, das heute noch besteht und sich stark von dem mittelalterlichen unterscheidet.

Die primären und sekundären Zentren der Barockstadt entwickelten sich vor allem um die kirchlichen Verwaltungs- (Bischofs- und Domherrenresidenzen) und Sakralbauten (temporäre Kathedralen). Gleichzeitig wurde die Entwicklung der neuen städtischen Struktur maßgeblich durch die Errichtung der Mönchsorden (Jesuiten, Pauliner, Franziskaner, Kapuziner) beeinflusst, die pastorale und andere öffentliche Aufgaben wahrnahmen, sowie durch den Orden der Heiligen Ursula, der die Ausbildung von Mädchen in der Stadt einführte. Der dritte, aber nicht minder wichtige Faktor war die griechisch-katholische Kirche seit Beginn des 18. Jahrhunderts, eine von der habsburgischen Obrigkeit unterstützte Kirchengründung, welche die traditionellen Riten und Gebräuche der Orthodoxen beibehielt, sie aber in die katholischen Weltkirche eingliederte. Seither verfügte die mit Rom unierte Kirche über ein Vikariat und ab den 1770er Jahren über ein unabhängiges Bistum, ein Kapitel, eine Pfarrerschaft und klösterliche Gemeinschaften, deren Gebäude in der letzten Phase des Barock auch das heutige Stadtbild von Oradea maßgeblich prägten.

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Dr. Szabolcs János (Großwardein) wandte sich den „Kulturellen Meilensteinen in der Stadtgeschichte von Großwardein“ zu. Er betrachtete die kulturgeschichtlichen Prozesse der Stadt seit dem Mittelalter bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Im Fokus der Untersuchungen standen Entwicklungsprozesse einer Stadtgeschichte in einem europäischen Kontext. So wurde die Stadtgründung durch König Ladislaus I. von Ungarn als ein erfolgreicher Versuch betrachtet, die Stadt an die kulturellen Strömungen im Westen anzuschließen, vor allem durch die Stärkung der römisch-katholischen Kirche. Die Zeit der Renaissance und des Humanismus war die erste Blütezeit in der Großwardeiner Kulturgeschichte. Um den Bischof János Vitéz bildete sich ein glänzender humanistischer Kreis heraus, am Bischofshof versammelten sich für kürzere oder längere Zeit bekannte Figuren des europäischen Humanismus. Die Zeit der Türkenbelagerung bedeutete eine Zeit der Rezession, erst im 18. Jahrhundert ist ein neuer Aufschwung des kulturellen Lebens bemerkbar. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelte sich Großwardein wieder zu einem überregionalen kulturellen Zentrum, wo die Architektur, das Musik- und Theaterleben vor allem von Wien beeinflusst wurde. Das 19. Jahrhundert war eine Epoche von revolutionären politischen Erschütterungen, aber auch der großen technischen, industriellen und kulturellen Entwicklungen in der Stadtgeschichte. Das Ende das 19. Jahrhunderts markierte für die Stadt einen Zeitraum, indem sie zu einer der modernsten Städte der Österreich-Ungarischen Monarchie und zur zweitwichtigsten Stadt des damaligen Ungarns (nach Budapest) geworden ist.

Dr. Franz Metz (München) behandelte die „Musikgeschichte Großwardeins mit dem Schwerpunkt auf dem Schaffen Michael Haydns“. In den biographischen Daten des Komponisten Johann Michael Haydn, Bruder des viel bekannteren Joseph Haydn, gibt es bezüglich seiner ersten Schaffensperiode noch viele Geheimnisse und Unstimmigkeiten. Johann Michael Haydn kam vermutlich 1745 in das Kapellhaus von St. Stephan in Wien, sang im Knabenchor und erlernte eifrig das Spiel auf der Orgel, dem Klavier und der Violine. Er wurde auch früh zum Organistendienst an St. Stephan herangezogen. 1760 übernahm er seine erste Stelle als Musiker, und zwar als Domkapellmeister des Bischofs zu Großwardein. Über die Tätigkeit Haydns bis 1760 gibt es kaum Belege, selbst viele seiner ersten Kompositionen sind nicht datiert und der Ort deren Entstehung bleibt ungewiss. Im Jahre 1757 schrieb der damals Zwanzigjährige die Missa canonica von J. J. Fux ab vermutlich um sich in der Komposition zu üben. Zu den biographischen Daten Johann Michael Haydns gehören auch die Namen zweier bischöflichen Residenzstädte des damaligen Ungarns, Großwardein und Temeswar. In der Geschichte der beiden benachbarten Bistümer sind viele Ähnlichkeiten zu erkennen: dies beginnt schon mit der Gründung beider Diözesen im 11. und kann im 18. Jahrhundert mit der Vertreibung der Türken und der Wiedereinrichtung der kirchlichen Strukturen beobachtet werden. Nach einer gründlichen Untersuchung der verschiedenen Quellen (Rechnungsbücher, Inventarlisten), dem Studium der nicht so zahlreichen Sekundärliteratur wie auch durch die Erforschung der kirchenmusikalischen Entwicklung an beiden Bischofskirchen kann man die Schlussfolgerung ziehen, dass er seine Missa Sanctissimi Trinitatis 1754 für die Einweihung der Temeswarer Domkirche komponiert hat. In Großwardein entstanden zahlreiche Werke, unter anderem die sechs Salve Regina, Messen, Offertorien, Gradualien, Kammermusikwerke und Konzerte.

Dr. Thomas Schares (Bayreuth) stellte „Karl Ditters von Dittersdorf am Hof des Bischofs Adam Patachich in Großwardein (1765 bis1769) in einer kulturhistorischen Skizze“ vor. Der heute nur noch Spezialisten bekannter Komponist der Wiener Klassik, Zeitgenosse Haydns und Mozarts, war ein exemplarischer Vertreter der tonbildenden Zunft seiner Zeit. Seine Anstellungen und Wirkungsstätten zeigten musterhaft, unter welchen Bedingungen künstlerische Tätigkeit im 18. Jahrhundert möglich war. Zeit seines Lebens war er abhängig von wechselnden Mäzenen; nach seiner höfischen Ausbildung in der Hauptstadt des Habsburgerreichs verschlug es ihn recht bald in die Provinz: Seine erste Anstellung als Kapellmeister führte ihn in die Peripherie des Reichs, an den Hof des Bischofs von Großwardein. Nach nur wenigen Jahren musste Bischof Adam Patachich auf Betreiben der Kaiserin Theater und Kapelle allerdings wieder auflösen. Ditters fand eine ähnliche neue Position beim Bischof von Breslau. Von diesem Muster konnte er sich nicht mehr lösen – zwar ähnlich dem Künstlerleben Joseph Haydns, fand Ditters Karriere ein tragischeres Ende. Aus der Peripherie heraus verlor er den Anschluss an die künstlerischen Entwicklungen in der Musikhauptstadt Wien, war bereits zu Lebzeiten vergessen und starb verarmt.

Ditters' eigener Lebensbericht deckte auch ausführlich seinen Aufenthalt in Großwardein ab. Dieser erschloss überraschend wenig die Zustände im damaligen Siebenbürgen. Ein besonderes Interesse für die eventuelle Fremdheit des Territoriums und von Land und Leuten wird an keiner Stelle greifbar. Vielmehr wird der Aufenthalt vom Autor als etwas völlig Normales dargestellt. Siebenbürgen ist lediglich ein anderer Reichsteil, eine zivilisatorische oder kulturelle Differenz wurde nicht konstatiert. Lediglich das tragische Ende einer Verlobung mit einer ungarischen Adelstochter bietet einen Hinweis auf das Vorhandensein kultureller Differenzen. Die Prachtentfaltung und der große Aufwand hingegen, die der Bischof betrieb, um seiner Rolle als Förderer der Musik und des Theaters gerecht zu werden, wurde in ausführlichen Schilderungen greifbar. Das zeitgenössische Musiktheater fand seinen Ausdruck und sein Publikum auch in der Provinz.

Dr. Gábor Veres (Großwardein) griff das Thema „Das Amt der Viertelmeister in Mitteleuropa und seine Parallelitäten in Großwardein“ auf. Es handelt sich bei dieser Institution um ein System der unmittelbaren städtischen Selbstverwaltung mit gewählten, angesehenen Bürgern im Wohnumfeld. In den sächsischen Siedlungen Siebenbürgens gab es mit den Nachbarschaften vergleichbare Systeme. Als erster hat Andor Csizmadia hat in seiner Studie die Geschichte der Viertelmeister in Klausenburg (ung. Kolozsvár, rum. Cluj-Napoca) untersucht. Ein Viertel kann ein Siedlungsteil den bestimmte Familien besitzen, sein aber auch eine Straße, eine Straßenseite oder sogar mehrere Straßen. Heute werden Viertelmeister in Europa nur noch in Erlau (ung. Eger) und in Kronach in Franken aus Traditionsbewahrung gewählt.

Dr. Attila Verók (Erlau/Eger) stellte „Großwardein in Geschichtsdokumenten (Landkarten und Ansichten, alten Drucken, Archivalien vor 1800) am Beispiel der historischen Sammlungen der Franckeschen Stiftungen zu Halle , vor. In der Frühen Neuzeit gab es nach der Schlacht bei Mohacs (1526) für das dreigeteilte Ungarn großes öffentliches Interesse in Europa. Auf Flugblättern, in wöchentlichen und politischen Zeitungen, in veröffentlichten Briefen prominenter Persönlichkeiten usw. stieß man oft auf Berichte, Nachrichten oder einfache Bemerkungen unterschiedlichster Art über Ungarn.

Die Unterrichts- und Kultureinrichtungen der ostdeutschen Stadt Halle an der Saale spielen seit der Frühen Neuzeit auch in der Kulturgeschichte Ungarns und insbesondere bei der deutschsprachigen Bevölkerung des Donau-Karpatenraumes eine wichtige Rolle. Hervorzuheben sind die Franckeschen Stiftungen, die durch den charismatischen pietistischen Theologen und Pädagogen August Hermann Francke (1663 bis 1727) als Hallesches Waisenhaus 1695/1698 ins Leben gerufen wurden. Diese kulturelle Institution mit ihrem weitläufigen Gebäudekomplex beherbergt in ihrer Bibliothek mehr als 100.000 alte Bücher, von denen Tausende von Drucken einen Ungarnbezug aufweisen, und in ihrem Archiv Hunderte von Handschriften, insbesondere Briefe, die in einem Zusammenhang mit Ungarn und der Geschichte des Donau-Karpatenraumes stehen. In einem Zeitraum von acht Jahren hat der Referent zu den historischen Beständen der Franckeschen Stiftungen mit Bezügen zu Ungarn und zu genannten Orten geforscht und in seinem Vortrag Fundstücke zu Großwardein präsentiert.

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Dr. Andrea Bánffi-Benedek (Großwardein) präsentierte „Steinerne Zeitzeugen: Ein Rundgang in Bildern durch den Großwardeiner Neologen Jüdischen Friedhof“. Neben ihrer primären Funktion als Begräbnisstätten, Orte die zum Zweck des Erinnerns errichtet wurden, legen Friedhöfe ein wesentliches Zeugnis der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen und historischen Veränderungen einer Region ab. Bei der Besichtigung eines Friedhofes werden nicht nur individuelle sondern auch kollektive Geschichte erschlossen. Der Ende des 19. Jahrhunderts errichtete, sich im Areal des Stadtfriedhofes befindliche Jüdische Neologe Friedhof in Großwardein „erzählt“ somit auch über Daten, Fakten, Schicksale sowie über das Gemeinwesen der hier Bestatteten. Frauen, Männer, Kinder, Durchschnittsmenschen aber auch bekannte Persönlichkeiten wurden beigesetzt. Dem Besucher zeigt sich an diesem Ort eine eigenartige Ästhetik: Artefakte, Grabdenkmäler, welche eine reiche Vielfalt an Formen, Geschlechter-, biblischen Symbolen und Symbolen aus den herrschenden Baustilen der aktuellen Zeit und der christlichen Umgebung aufzeigen. Diese Artefakte lassen sich als Palimpseste spezifischer historischer Epochen und Stadtbilder, sowie der sich in diesem Kontext sukzessiv ändernden Großwardeiner Judenheiten lesen. Neben Grabsteinepigraphik, spezifischen Zeichen und Ausgestaltung zweisprachiger Inschriften in hebräischer und ungarischer Sprache, ging der Vortrag auf die folgenden zentralen Aspekte ein: Heterotopie, Nebeneinander zwischen Privatem und Öffentlichem, Individuellem und Kollektivem, Erinnerung und Raum, Isolation als Konservierung und Untergang, Inszenierung für die Nachwelt, Verräumlichung von Erinnerung, Gedenken und Eingedenken, urbane Naturerfahrung.

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Dr. Eszter János (Großwardein) sprach abschließend über „Die Stadtentwicklung von Großwardein im Zeichen der Moderne (bis zum Ersten Weltkrieg)“. Der zweite Teil des 19. und die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts (bis zur Auslösung des Ersten Weltkriegs) war eine Periode, als Großwardein eine Reihe von spektakulären Entwicklungen in verschiedenen Bereichen registriert hat. Die Entwicklung der Industrie, das Bevölkerungswachstum, die Intensivierung des künstlerischen und kulturellen Lebens, des gesamten Soziallebens haben zahlreiche Auswirkungen gehabt. Unter anderem, auch die Architektur hat Vorteile aus den Umwandlungen dieser Zeitspanne gezogen. Das bekannte Bild der heutigen Innenstadt von Großwardein wurde vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts unter dem Bürgermeister Károly Rimler und der Leitung von József Kőszeghy, dem Chefingenieur der Stadt, entwickelt. Mit Ausnahme einiger wichtige Gebäude (das Theater, der Palast der Finanzverwaltung) wurden unter seiner Herrschaft die eklektischen und jugendstilartigen Gebäude errichtet, die das historische Zentrum der Stadt dominieren. Der Vortrag stellte das architektonische Erbe von Großwardein um die Jahrhundertwende vor und ging dabei den Geschichten der ehemaligen Erbauer und Gestalter der Paläste nach.

Die Veranstaltung war Teil einer Seminarfolge „Stadt- und Kulturgeschichte von...“ in denen der Fokus auf die Kultur und Geschichte von bedeutsamen Städten und Marktflecken im östlichen Europa, wo Deutsche einst lebten und immer noch leben, gelenkt wird. Diesmal stand die Orts-, Kultur-, Religions- und Wirtschaftsgeschichte von Großwardein/Oradea/Nagyvarad im Mittelpunkt. Eine Stadt, die bis heute einen besonderen multiethnischen, multikonfessionellen und mehrsprachigen Charakter besitzt. Durch die weitgefasste Themenstellung und die Zusammensetzung der Referierenden (Deutsche, Rumänen, Ungarn, Siebenbürger Sachsen, Banater Schwaben, Historiker, Musikhistoriker, Sprach- und Literaturwissenschaftler etc.) wurden zahlreiche Aspekte der Stadtgeschichte und Gegenwart beleuchtet. Die Maßnahme hat das Anliegen des Förderers und der Veranstalter und , die Erforschung und Weiterentwicklung des deutschen kulturellen Erbes im östlichen Europa als eines gemeinsamen Erbes und gemeinsamer Geschichte mit anderen Ethnien, Völkern und Gruppen, mustergültig aufgegriffen und erfolgreich umgesetzt.

 

Die Veranstaltende Akademie Mitteleuropa dankt auch im Namen der Teilnehmenden und Referierenden der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien für die finanzielle Unterstützung der durchgeführten Maßnahme. Ohne diese Unterstützung hätte diese Maßnahme nicht durchgeführt werden können.